Zukunft des ländlichen Raums

Ländliche Lebensverhältnisse: Vielfältig und zukunftsfähig

Ländliche Lebensverhältnisse haben sich im Wandel der letzten Jahrzehnte positiv entwickelt. Eine Langzeitstudie des BMEL zeigt, dass sämtliche schematisierende und vereinfachende Prognosen der Vergangenheit über die Zukunft ländlicher Räume falsch waren. Entscheidend für die Entwicklung von Gemeinden oder Ortsteilen in ländlichen Räumen sind vor allem die Entwicklungsanstrengungen der Aktiven vor Ort. Selbst unter gleichen Rahmenbedingungen entstehen vielfältige Angebote, die von den kommunalpolitisch und ehrenamtlich Aktiven beeinflusst werden. Direkte Einflussmöglichkeiten und eine hohe Lebenszufriedenheit kennzeichnen die Lebensbedingungen in den meisten ländlichen Orten.

Fotolia_63825970_XS
© Thierry RYO - Fotolia

Das Thünen-Institut für ländliche Räume, eine wissenschaftliche Einrichtung des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) hat eine Studie über die ländlichen Lebensverhältnisse im Wandel zwischen 1952 und 2012 erstellt. Bei dieser einzigartigen Stu-die wurden jeweils dieselben Orte seit 1952 im Abstand von jeweils 20 Jahren (die beteiligten ostdeutschen Gemeinden seit 1993) hinsichtlich der Lebensverhältnisse wissenschaftlich untersucht. Sieben Forschungseinrichtungen haben diese Untersuchungen unter Koordinierung des Thünen-Instituts für ländliche Räume in Braunschweig vorgenommen.

Die Studie zeigt, dass in den 14 untersuchten Gemeinden sehr unter-schiedliche Entwicklungen stattfanden, die sich Schematisierungen und Vereinfachungen entziehen. Insbesondere hauptsächlich negative Prognosen, die auf der Basis von linearen Fortschreibungen entstanden sind, sind nicht eingetreten. Entscheidend für die Vielfalt der tatsächlichen Entwicklungen waren die Entwicklungsanstrengungen, die von den Aktiven vor Ort vorgenommen wurden. Am Willen und der Fähigkeit, staatliche Unterstützungsprogramme zu nutzen, am Engagement der Zivilgesellschaft und der Fähigkeit zur Offenheit entscheidet sich in großem Maße die Entwicklungsrichtung der Dörfer in ländlichen Räumen.

Besonders interessante Ergebnisse sind:

Es gibt keine einseitige „Entleerung“ der Dörfer

Die Einwohnerentwicklung der Dörfer ist ein wichtiger Indikator. Die Einwohnerentwicklung ist jedoch keine Einbahnstraße. In der Langzeitbetrachtung zeigt sich, dass sowohl eine Abnahme, als auch Zunahmen der Einwohnerzahlen im Wechsel möglich sind. Besonders die verbesserten Möglichkeiten der individuellen (Arbeits-)Mobilität, die Entwicklung regionaler Arbeitsmärkte, aber auch „Suburbanisierungsprozesse“ können zum Stopp von Einwohnerverlusten oder gar zu Einwohnergewinnen führen. Ein konkretes Beispiel ist der Zuzug von polnischen Bürgern, bei denen durch den Bau oder Kauf von Häusern eine eindeutige Bleibe- und Integrationsperspektive gegeben ist.

Dies zeigt unter anderem, dass der Zuzug von Einwohnern nicht von den örtlichen Arbeitsmärkten, sondern von regionalen Arbeitsmärkten als Basis bestimmt wird, wobei die Entscheidung für einen konkreten Ort in den örtlichen Wohnortqualitäten, den ökonomischen Bedingun-gen und der Wettbewerbssituation gegenüber anderen Orten in der Region ausschlaggebend ist.

Daneben ist eine generelle Abwanderungsbereitschaft von jugendlichen oder erwachsenen Einwohnern kleinerer Orte nicht nachweisbar, wenngleich es selbstverständlich bei einem erheblichen Teil der jugendlichen oder erwachsenen Einwohner Überlegungen zur Abwanderung gibt. Ob diese realisiert werden, ist dann wiederum eine Frage der Aufnahmefähigkeit des regionalen Arbeitsmarktes, der Erreichbarkeit von Zentren oder der eigenen beruflichen Orientierung.

Ländliche Wirtschaft ist produzierendes Gewerbe

Das Rückgrat der ländlichen Wirtschaft wird durch das produzierende Gewerbe und den Dienstleistungsbereich gebildet. Diese bieten den Großteil von Wertschöpfung und Arbeitsplätzen. Diese Arbeitsplätze müssen nicht ortsnah vorliegen. Die Attraktivität eines Ortes wird ge-steigert, wenn Arbeitsplätze in der Region verfügbar sind. Die Vorstellung, dass die örtliche Bevölkerung auch vor Ort arbeitet, wird den tat-sächlichen Gegebenheiten nicht gerecht. Vielmehr pendelt die Mehr-zahl der örtlichen Arbeitnehmer von auswärts ein und die große Mehrheit der im Ort wohnenden Arbeitskräfte pendelt zu anderen Arbeits-plätzen aus. Im Durchschnitt erreichen 80 Prozent der befragten Pendler ihre Arbeitsplätze in weniger als 30 Minuten Fahrzeit.

Dörfer bieten Lebenszufriedenheit

Die weit überwiegende Mehrheit der befragten Einwohner lebt gerne in ihren Orten. Eine wesentliche Voraussetzung dessen ist jedoch die individuelle Mobilität. Sie ermöglicht es, die örtlichen Angebote im Alltagsleben als ein Angebot unter verschiedenen in der Region wahrnehmen zu können. Individuelle Mobilität ist also die Befreiung von der Begrenzung des örtlichen Angebotes. Dementsprechend ist zwar die sehr große Mehrheit mit ihren Wohnorten zufrieden, gleichzeitig scheint eine emotionale Bindung von rund drei Vierteln der Einwohner zu ihrem Wohnort nicht bedeutsam zu sein. Vielmehr sind über 60 Prozent der befragten Bürger nicht in ihren Wohnorten aufgewachsen, sondern zugewandert. Dass der Aspekt Heimat/Zuhause dennoch ein positives Merkmal des Wohnortes ist, zeigt sich daran, dass rund ein Viertel der Befragten dies für ein positives Merkmal hält. Diese Befunde werfen nochmals ein Licht auf die Bedeutung, die es für die Attraktivität von Dörfern hat, dass sich die Einwohner ehrenamtlich und gestaltend wirksam für ihre Ortsentwicklung einsetzen können. Dies stärkt die positiven Bindungen zum Wohnort.

Infrastruktur und Landschaft dürfen nicht gefährdet werden

Die infrastrukturelle Ausstattung der untersuchten Dörfer unterschied sich sehr voneinander und war bei weitem nicht überall vollständig. So waren in einer Reihe von Gemeinden keine allgemeinärztlichen Praxen verfügbar und auch die Nahversorgung war teilweise allenfalls über mobile Lebensmittelangebote vorhanden. Hier zeigt sich jedoch wieder die Bedeutung der individuellen Mobilität. Solange die Nahversorgung, Freizeiteinrichtungen oder medizinische Versorgung in einem Nahraum erreicht werden können, wird der Nachteil des Fehlens örtlicher Infrastruktur relativiert. Dies gilt jedoch nicht für die Breitbandversorgung, die im Alltag nicht durch eine Ortsveränderung ersetzt werden kann. Der Breitbandversorgung kommt deshalb eine zentrale Rolle zu, die in der Zukunft noch steigen wird.

Eine ähnlich hohe Bedeutung hat jedoch auch das Landschaftsbild. Wenngleich die Landbewirtschaftung durch landwirtschaftliche Unter-nehmen erheblich an Bedeutung verloren hat, besteht in weiten Kreisen der Wohnbevölkerung in ländlichen Räumen ein sehr emotionales Verhältnis zum Landschaftsbild und zum Landschaftserleben. Eine Veränderung des Landschaftsbildes wird daher mehrheitlich abgelehnt. Dieser Befund bestätigt sich in zahlreichen Konflikten, die im Zusammenhang mit dem Ausbau von Anlagen erneuerbaren Energien oder entsprechender Trassen auftreten.

Die Studie „Ländliche Lebensverhältnisse im Wandel 1952, 1972, 1993 und 2012“ geht in verschiedenen Teilprojekten auf besondere Aspekte des Lebens in Dörfern ein. Diese Teilprojekte sind „Alltagsbewältigungsstrategien“, „Anforderungen an die Landwirtschaft“, „Dörfer als Wohnstandorte“, „Handlungsspielräume von Orten – Rahmenbedingungen politischen Handelns“, „Kindheit im Wandel“, „Ländliche Arbeitsmärkte: Chancen für Frauen – Frauen an Chance“, „Soziale Unterstützungsstrukturen im Wandel“ und „Neue Medien und dörflicher Wandel“. Die Studie kann von der Internetseite des BMEL unter der Adresse www.bmel.de heruntergeladen werden.

Einschätzung

Aus Sicht des Deutschen Städte- und Gemeindebundes ist die Studie eine Bestätigung dafür, dass die Lebensbedingungen in ländlichen Räumen trotz derzeitig als kritisch einzustufender Entwicklungen, wie der Abwanderung oder des demografischen Wandels, gut sind. Die Studie zeigt, dass es für die konkrete Gestaltung guter Lebensbedingungen entscheidend auf das Engagement der Selbstverwaltung und der örtlichen Bevölkerung ankommt. Dabei ist besonders hervorzuheben, dass die Integration von Zugezogenen voraussetzt, dass die einheimische Bevölkerung eine Offenheit zur Integration hat.
Des Weiteren bestätigt die Untersuchung die überragende Bedeutung von individueller Mobilität. Dies gilt sowohl für die räumliche Mobilität als auch für die virtuelle Mobilität durch moderne Breitbandverbindungen. Die darin liegenden Chancen sollten aus Sicht des DStGB durch konsequente Förderung von Elektromobilität bei Verkehrskonzepten als auch durch die verbesserte Breitbanderschließung genutzt werden. Diese ermöglichen es, sowohl Daseinsvorsorgedienstleistungen (zum Beispiel im Bereich der ärztlichen Versorgung oder der Bildung) zu erbringen, aber auch angepasste Strategien in den Bereichen von Freizeit und Nahversorgung mit alltäglichen Gütern (zum Beispiel Lieferdienste) in Anspruch zu nehmen.


(DStGB Carsten Hansen, 04.11.2015)